lädt…

Mark Radler

Notizen aus der Provinz

Rittergut Krahne

No19 / 5. März 2017

Grenzerfahrung im Rittergut

Erfahrung 1 – Krahne (4). Wir schreiben das Jahr 2015. Mark Radler radelt am Rande des Planetals von Meßdunk nach Krahne, wo Erfahrung 1 zu ihrem Ende kommt.

Lukullische Erweckung

Obwohl ich vor 17 Uhr zurück bin, hat die Rittergut-Gaststätte erfreulicherweise bereits geöffnet, wobei ich an diesem warmen Sommernachmittag natürlich ein Plätzchen im lauschigen „Vorgarten“ einnehme. Am Eingang der Gaststätte wird auf gut-bürgerliche und regional geprägte Küche verwiesen. Da mir der Sinn nach Kaffee und Kuchen steht, erscheint mir der Küchentypus nicht sonderlich relevant. Aber große Auswahl habe ich ja sowieso nicht, was auch fürs Kuchenangebot gilt. Es ist nur Erdbeerstreusel – wahlweise mit oder ohne Schlagsahne – im Angebot. Aber gegen Erdbeerstreusel spricht ja nichts. Bestellt, kurz gewartet, freundlich serviert. Erst einmal fällt auf, dass die Schlagsahne ungewöhnlich großzügig portioniert ist. Hier meint es jemand gut mit mir, will ich hoffen. Dazu liegen zwei frische Erdbeeren auf dem Teller, außer dem Kuchen versteht sich.

 

Mein erster Bissen – mikrowellenbedingt – warmer Erdbeerstreuselkuchen gehört zu den nachhaltigsten Eindrücken der regional geprägten Küche überhaupt. Neben einem kurzzeitig aufkommenden Hauch von Erdbeere breitet sich an meinem Gaumen mit orgiastischer Heftigkeit ein intensiver Zwiebelgeschmack aus, ja, ich fühle mich geradezu in heftigstem Sturm genommen und begreife sofort, wofür hier die reichlich bemessene Schlagsahne gut sein muss. Ich schaufle zwei, drei, vier volle Gabeln Schlagsahne hinterher. Mann, das tut wirklich gut. Und jetzt eine frische Erdbeere dazu. Wow, ich schmecke tatsächlich Erdbeere, süße Erdbeere. Habe ich Erdbeere jemals zuvor so intensiv wahrgenommen? Ich glaube nicht. Aber die Erdbeere bleibt nicht lange allein, die Zwiebel schiebt sich selbstbewusst wieder in den Vordergrund. Oh, besser nochmal Schlagsahne, zwei, drei Ladungen. Danach könnt’ ich süchtig werden, denke ich. Nach Schlagsahne. Hier und jetzt. Und schon ruft sich die Zwiebel wieder in Erinnerung, worauf ich mit einem großen Schluck Kaffee antworte. Der ist nun der ultimative Kick und gewährt mir eine überwältigende Gaumenwohltat. Vollmundiger Kaffeegeschmack verweist die hartnäckige Zwiebel in ihre Grenzen. Ich atme tief durch. Verdammt, das ist so raffiniert ausgedacht und arrangiert, dass ich die Prozedur gleich nochmal wiederhole. Dabei steht eins fest: so heftig werden meine Geschmacksnerven nicht alle Tage in Unruhe versetzt. Hier von gut bürgerlicher Küche zu sprechen, das ist reinstes Understatement. Mit diesem Erdbeerstreusel repräsentiert das Rittergut Krahne die radikal-innovative Küche des 21. Jahrhunderts und geht in die Gastronomiegeschichte ein. Wie sagte in dem Film Ratatouille der Meisterkritiker Anton Ego zum genialen Rattenkoch Remy: “Überrasch mich!” Das ist hier voll gelungen. Wobei ich damit in keinster Weise andeuten möchte, dass hier ein Rattenkoch am Werke war. Für einen Moment überlege ich zwar, ob das hier vielleicht nicht doch die versteckte Kamera ist, aber mit diesem ketzerischen Gedanken zeige ich nur, dass ich dieser kulinarischen Meisterleistung letztlich doch nicht würdig bin. Nein, das ist ein Meisterwerk, das muss ein Meisterwerk sein, so wie die in einer exquisiten Chocolaterie raffiniert mit scharfer Chilischote hochkomponierte Schock-Schokolade. Schokolade pur reicht dem verwöhnten Gaumen von heute ja auch nicht mehr. Der Gaumen muss brennen oder anderweitig auf Touren gebracht werden. Wie dürfte ich mich da mit reinem Erdbeergeschmack zufriedengeben? So ein Kulturbanause will ich mitnichten sein.

Erdbeerstreusel mit Weizen

Man muss sich dem Neuen öffnen. Also führe ich ein weiteres Stück Erdbeerstreusel in meinen nach neuen Herausforderungen lechzenden Mund. Als mich die Zwiebel mit ganzer Wucht erneut heimsucht, bemerke ich mit fassungslosem Entsetzen, dass die Schlagsahne wie auch der Kaffee alle sind. Verzweifelt und hilfesuchend schaue ich um mich – und gebe mich endgültig der Zwiebel hin. Ab diesem Moment fühle ich mich völlig frei. Und bestelle ein Weizenbier zum Kuchen. Wenn schon, denn schon innovativ (*2019).

Für heute reicht es. Das auf einem Hinweisschild lockende Naturschutzgebiet Krahner Busch muss warten. Auf eine weitere Erfahrung.

Rückfahrt

MARK RADLER will return …

(* – Anmerkung vom März 2019: Wie uns Leser zwischenzeitlich mitteilten, hatte schon kurz nach diesem Artikel die Bewirtschaftung des Ritterguts Krahne gewechselt, was zum Ende der gepriesenen innovativen Küche geführt hat. Die Welt ist wohl noch nicht reif dafür. Inzwischen soll die Gaststätte sogar ganz geschlossen sein. Damit bildet nun der ganze Dreh um Reckahn ein gastronimsches Notstandsgebiet.)