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Mark Radler

Notizen aus der Provinz

No23 / 2. April 2017

Paterdamm, wo fast 5000 Ermordete spurlos verschwanden.

April 2016. MARK RADLER fährt nach dem Besuch der „Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde in Brandenburg an der Havel” ins abgelegene Paterdamm, um dort den Standort jenes Gehöftes aufzusuchen, wo zwischen Juli und Oktober 1940 die in der „Landes-Pflegeanstalt“ der Stadt Brandenburg heimtückisch ermordeten Menschen klammheimlich verbrannt wurden.

Fahrt nach Paterdamm

Tief bewegt mache ich mich von Brandenburg auf den Weg über Göttin nach Paterdamm. Durch das regelmäßige Treten und die gleitende Bewegung falle ich schnell in meditative Gedanken. Radfahren kann die pure Meditation sein, durch die man seine innere Balance erhalten oder wiederfinden kann. So auch jetzt.

Paterdammer Weg

Von Göttin aus fahre ich in östliche Richtung über den Paterdammer Weg zur abgelegenen Kleinsiedlung Paterdamm. Ich sinniere kurz darüber, ob die jetzt durch blühende Schlehen und Traubenkirschen besonders idyllisch anmutende Kulturlandschaft vor 76 Jahren wohl ähnlich ausgesehen haben mag.

Bekanntes zum weitgehend unbekannten Unort

Paterdamm. In verschiedenen Quellen im Internet wird dieser Ort als perfider Teil des Mord- und Vertuschungsprogrammes T4 zwar namentlich benannt, aber Hinweise auf den konkreten Ort, auf das Grundstück, auf dem die in Brandenburg ermordeten Opfer hier verbrannt wurden, hatte ich erstmal nicht gefunden. In der Ausstellung der in MR No22 vorgestellten Gedenkstätte – wie auch im Katalog der Ausstellung – fand ich dann ein Luftbild der US-Luftaufklärung aus dem Jahr 1944, auf dem das betreffende Gelände markiert ist. Es handelt sich um das von der übrigen Siedlung – in westlicher Richtung – nochmals etwas abgelegenere Sidlungsgebiet am Paterdammer Weg.

Vermutlich im Frühsommer 1940 wurden die auf diesem Gelände bestehenden Gebäude für die vorgesehenen Zwecke umgebaut. Da Paterdamm bis dahin über keinen Stromanschluss verfügte, wurde eigens dafür von Göttin aus eine Stromleitung gelegt. Zur Tarnung wurde am Grundstück ein Schild mit der Beschriftung “Chemisch-technische Versuchsanstalt” angebracht.

Erst nach meiner Fahrt nach Paterdamm habe ich auf einer privaten Webseite einen Artikel der „Märkischen Allgemeinen” vom August 1995 gefunden, der einige interessante Informationen zum Thema enthält. Danach wurde das Grundstück von einem Kommando der SS-Totenkopfstandarte aus dem KZ Sachsenhausen übernommen und mit einem 4 Meter hohen Zaun gesichert. Zwischen Juli und Ende Oktober 1940 wurden hier dann etwa 5000 Leichen verbrannt. Pro Woche wurden ca. 300 Leichen mit einem großen Gepäckwagen der Deutschen Reichspost von Brandenburg nach Paterdamm gebracht. Die verwendeten Verbrennungsöfen waren von der Brandenburger „Anstalt” übernommen worden. Es handelte sich um speziell für diesen Zweck entwickelte mobile Öfen, die mit Rohöl betrieben wurden und daher zu einer starken Rauchbildung führten. Wegen dieser Brennöfen war es in Brandenburg zu Unmut in der Bevölkerung gekommen, weswegen wohl deren Verlegung ins abgelegene Paterdamm erfolgte. Es ist bis heute nicht bekannt, wo die Verbrennungsreste der Opfer (Asche und Knochenreste) verblieben sind. Bei einer punktuellen Suche anlässlich eines Bauantrags wurden auf dem besagten Grundstück in Paterdamm im Jahr 1995 keine entsprechenden Spuren gefunden. Das Gebäude selbst wurde nach Beendigung der Aktion T4 geräumt und danach wieder als Wohnhaus genutzt. Ob und wann das Gebäude später vollständig abgerissen wurde, darüber habe ich keine Informationen gefunden. Die heutige Bebauung entspricht jedoch nicht mehr der Situation des Jahres 1940.

Als ich von Westen kommend das gesuchte Gelände errreiche, stoße ich auf eine ländliche Idylle.

 

Westseite des gesuchten Geländes

Nachdem ich den Paterdammer Weg weiter in östliche Richtung bis zum Ende des Siedlungsfleckens fahre, überfällt mich absolute Fassungslosigkeit. Nichts, absolut nichts erinnert daran, was hier vor 76 Jahren geschah. Im Grunde begreife ich auch nicht, wie dieses Grundstück mit dieser grauenhaften Geschichte nach dem Ende der barbarischen Nutzung durch die Nazis einfach so der banalen Alltagsnutzung überlassen werden konnte. Mir gehen dabei die Bilder der Ermordeten durch den Kopf, die ich vor etwa einer Stunde an der Erinnergungsstätte in Brandenburg gesehen habe. Und ich muss an das große Leid der zahlreichen Hinterbliebenen denken, an die Eltern, Geschwister und andere Verwandte, an Bekannte und sicher auch Freunde. Was sind das für Dimensionen des Grauens und unermesslichen Leids. Und nichts, überhaupt nichts erinnert genau an diesem Ort daran, wo diese Menschen – bis heute – spurlos verschwunden sind. Als wäre hier nie etwas Ungewöhnliches geschehen.

 

Ostseite des gesuchten Geländes

 

Ich möchte dazu ganz klar feststellen, dass dies alles bitte nicht als Kritik an den jetzigen Eigentümern und Bewohnern – und ihre moralische Haltung – aufgefasst werden soll, denn diese kenne ich nicht. Und es liegt ganz sicher nicht in der Verantwortung von Privatpersonen, öffentliche Mahn- oder Erinnerungsstätten zu schaffen. Ich kann für mich nur feststellen, dass mich die bestehende Situation bestürzt.

 

Abgelegene Gedenktafel

Gedenken im allzu Verborgenen

Langsam fahre ich dann zum Ortskern Paterdamm weiter, der direkt an der B 102 liegt. Das ist wirklich ein sehr kleiner und abgelegener Ort, noch heute. Und vermutlich nur bei Autofahrern berüchtigt, weil hier im Ort eine Radarfalle steht. An der Mündung des Paterdammer Weges in die B 102 entdecke ich dann eine Gebietskarte, die mich interessiert. Erst als ich direkt vor dieser Karte stehe, entdecke ich links davon eine kleine, sehr unauffällige und teilweise von einem Strauch verdeckte Stelltafel, die mit zwei kleinen Texttafeln und einem kleinen Foto an das verbrecherische Geschehen in Paterdamm erinnert. Na, immerhin, denke ich, auch wenn man diese Erinnerungstafel kaum unauffälliger hätte gestalten und platzieren können. Auf mich wirkt die bescheidene Tafel so, dass sie auf private Initiative hin errichtet wurde, was mein ungutes Gefühl verstärkt. Positiv vermerkt sei, dass die Tafel bisher noch nicht von irgendwelchen Böswilligen oder Dummköpfen beschmiert wurde.

Gedenktafel in Paterdamm

Leider kann man dieser Tafel nicht entnehmen, wo genau in Paterdamm die Ermordeten verbrannt wurden. Die Tafel erweckt vielmehr den Eindruck, dass man sich hier genau an dem besagtem Standort befindet: „Hier, auf dem als ‘Chemisch-Technische Untersuchungsstelle’ getarnten Verbrennungsgelände…”  Dabei ist der grauenhafte Ort etwa 370 Meter weit von hier entfernt. Völlig entgeistert stehe ich an dieser Erinnerungstafel, die uns letztlich doch in die Irre führt und uns am falschen Ort gedenken lässt. Ich halte das deswegen für relevant, weil die Reste der Ermordeten bis jetzt spurlos verschwunden sind. Würde man den Standort ihrer Asche kennen, dann könnte man ihrer gegebenenfalls an diesem Ort gedenken. Aber dem ist nicht so. Die Spur von fast 5000 Ermordeten verliert sich auf dem besagten Gelände am Paterdammer Weg. Es ist nicht bekannt, wo ihre Reste verblieben sind. Und genau deshalb sollte man ihnen genau dort gedenken können, wo sie auf heimtückische Art endgültig aus dieser Welt gebracht worden sind. Das zumindest wäre man ihnen – und ihren Angehörigen – doch schuldig.

Mir ist dabei bewusst, dass eine angemessene Gedenkstätte am Ort des realen Geschehens für die dortigen Anwohner zu einer persönlichen Belastung werden kann. Aber die jetzige Situation erscheint mir unerträglich.

An diesem Punkt fühle ich mich etwas ratlos, denn mir fällt es nicht leicht, jetzt mit meiner Tour einfach fortzufahren. Zögerlich fahre ich in Richtung Göttin zurück. Auf der rechten Seite des Paterdammer Weges schließt sich das Naturschutzgebiet „Bruchwald Roßdunk” an. An den Rändern blühen und duften dichte Traubenkirschenbestände, der Waldboden wird bereichsweise von einem flächendeckenden Teppich weiß blühender Buschwindröschen bedeckt.

 

Warum auch immer, aber diese Eindrücke haben eine beruhigende, ja tröstende Wirkung auf mich. Am westlichen Ende des NSG finde ich einen Stichweg, der direkt in einen überstauten Erlenbruch führt.

 

So viele Erlenbäume. Und ich beginne sie zu zählen. Nach 129 Bäumen höre ich auf. Es reicht. Es waren fast 5000 Menschen.

Im dunklen Bruchwasser leuchten mir die gelben Blüten der Sumpfdotterblume entgegen.

 

Und mir wird klar: Heute kann es nicht mehr weitergehen. Erfahrung 2 endet hier.