Über Brücker Elend
Nahe dem einstigen sächsischen Grenzstädtchen Brück hatten wir vergeblich nach Spuren einer mittelalterlichen Sachsenburg gesucht, als wir unvermutet auf Brücks Elend stoßen, was fast so klingt wie Brück’s Island. Aber hier handelt es sich ganz gewiss nicht um eine Insel der Glückseligen.
Brück Ausbau – oder eher Rückbau?
Direkt auf Höhe der Pension Am Schloßbusch weist ein Ortsschild darauf hin, dass hier der Ortsteil „Brück-Ausbau” der Stadt Brück beginnt. Solche „Ausbau-Ortsteile” gibt es gar nicht wenige im Land, was ihre Bezeichnung nicht unbedingt wohlklingender macht. Ausbau, das klingt doch sehr nach notdürftigem Anbau. Hier im Brücker Norden trifft es die Sache auch ziemlich genau, erscheint mir sogar noch eher als Untertreibung, so trist kommt das rüber, was hier rechts der Beelitzer Straße vor mir steht, diese in ödem Braungrau oder Graubraun verwitternden Gebäuderiegel.
Auch nach über 20 Jahren seit der Wende hat diese vierstöckige Häuserblock-Siedlung noch immer keine neue Farbe gesehen, geschweige denn irgendeine substanzielle Aufwertung erfahren. Das sieht heute eher nach Rück- denn als Ausbau aus. Beim Näherkommen stelle ich fest, dass hier noch Menschen wohnen. Ich will hoffen, dass die Mieten wenigstens entsprechend günstig sind.
Aus der Nähe wirkt das Ganze dann sogar noch trostloser und ich muss unweigerlich an den Harz denken, was etwas verwunderlich klingen mag, denn was kann der schöne Harz mit diesem Elend zu tun haben? Genau, was im Harz – heute fälschlicherweise – Elend heißt, ist hier im Brücker Ausbau im Übermaß real vorhanden.
Deprimiert schaue ich mich um und bemerke, dass einer der Blöcke doch schon leer steht, also auf neudeutsch bereits „entmietet” ist, und vor sich hin bröckelt und bröselt. Diesen Verfall halte ich sogleich im Bilde fest.
Wer hier heute noch wohnt, wurde vom Leben gewiss nicht verwöhnt, denke ich, und bemerke im Augenwinkel, wie ich aus dem Gebäuderiegel von nebenan aus einem Fenster im ersten Stock beobachtet werde.
Verboten!
Während ich gerade weitere Fotos mache, schallt es dann prompt durch Brücks Elend, dass hier das Fotografieren verboten sei.
Verboten, verboten!
Ich schaue auf und erblicke am besagten Fenster im ersten Stock eine hagere Gestalt im weißen Unterhemd.
„Ich wünsche ihnen auch einen schönen Tag”, erwidere ich freundlich und mache gleich noch ein Foto – von den Garagen, vor denen ein schnieker weißer Audi steht, der so gar nicht in dieses arg bescheidene Umfeld passt.
„Das hier ist Privateigentum”, schallt es erneut – nun aber in merklich aggressivem Ton – durch Brücks Elend.
Nun gut, über 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR hat diese Aussage eigentlich keinen sehr hohen Neuigkeitswert mehr, denn dass es das „volkseigene Vermögen” nicht mehr gibt, das hat sich inzwischen selbst bis zu mir herumgesprochen. Mich verwundert eher, wie weitreichend in diesem einst sozialistischen Land das Recht des Privateigentums mitunter verstanden wird und von welcher Seite dieses Eigentum hier so tapfer und kompromisslos verteidigt wird, nämlich ausgerechnet von denen, die nichts oder kaum etwas haben. Das hat schon etwas Tragikomisches an sich.
Da ich mich auf öffentlich frei zugänglichem Gelände befinde und nur dokumentationswürdige Gebäude – und keine Menschen – fotografiere, lasse ich den Unterbehemden weiter im Saft seiner bizarren Privateigentumsverteidigung schmoren und mache ganz in Ruhe weitere Fotos.
In diesem Moment vernehme ich eine Stimme auf fast gleichem Niveau, was hier allerdings nicht intellektuell, sondern nur in Höhenmetern zu verstehen ist:
„Hier dürfen sie nicht fotografieren”.
Ich drehe mich um und sehe, wie ein ebenso hagerer wie verhärmt aussehender Mann in blauem Jogginganzug – und roten Erregungsflecken im Gesicht – aus dem nächstgelegenen Hauseingang kommt und leicht aggressiv in meine Richtung blickt.
Das Alter des leicht Erhitzten ist, wie das bei solchen vom Schicksal nicht gerade verwöhnten Menschen nicht unüblich ist, auch in diesem Fall äußerst schwer zu schätzen. Wenn ich alle erdenklichen Schicksalsschläge und möglichen Trink- und Essgewohnheiten berücksichtige, komme ich auf etwa 40 Jahre. Auch ihm wünsche ich dann erstmal freundlich einen schönen Tag, ernte darauf aber einen Blick, der mir keine große Hoffnung auf sozialverträgliche Umgangsformen macht.
Im selben Augenblick erscheint dann auch noch der Unterhemdträger aus dem ersten Stock im Hauseingang. Denen ist das offensichtlich verdammt ernst und wichtig. Für einen kurzen Moment wähne ich mich im Nachmittagsprogramm von Super RTL (oder heißt es RTL XXL?), als mir augenblicklich klar wird, dass ich nun doch besser auf der Hut sein sollte.
Noch nehme ich die Situation aber nicht als völlig entglitten wahr und gehe langsam auf die beiden Männer zu, grüße sie nochmals höflich und frage in sachlichem Ton, was denn so schlimm daran sei, wenn ich Fotos von dieser historisch bemerkenswerten Siedlung mache? Noch bevor ich meine – vermutlich unverstandene – Frage beende, nehme ich eine atemberaubende Wolke aus kaltem Zigarettenrauch, Alkohol- und kräftigen Schweißausdünstungen wahr. Das stellt mein Wohlwollen nun doch auf eine harte Probe, aber ein Zurück gibt’s jetzt nicht mehr.
„Löschen sie sofort die Bilder!”, krächzt es gleich darauf in hysterischem Befehlston aus dem Munde des in smartem KiK-Dressstyle Gewandeten.
Was ist bei dir nur schiefgelaufen, frage ich mich (noch) voller Mitgefühl, aber leider kann ich mir die Frage nicht selbst beantworten, wie es ganz sicher auch vergebens wäre, sie an das Objekt meines Mitleids zu richten.
„Löschen sie die Bilder, habe ich gesagt!”, wiederholt mein Gegenüber in hartem Befehlston und völliger Fehleinschätzung seiner Befugnisse. Oh Mann, der Kerl versteht sich hier wohl als eine Art Blockwart, hat wohl nicht mitbekommen, dass diese Zeiten lange vorbei sind.
„Das werde ich bestimmt nicht tun”, sage ich etwas hilflos und füge die hypothetische Frage hinzu, für wen er sich eigentlich halte.
„Was ist ihr Name?”, höre ich den immer mehr Erhitzten darauf mit knarzender Stimme fragen.
Das ist nun so etwas von affig, dass ich lachen muss. In diesem Moment sehe ich seine roten Gesichtsflecken geradezu explodieren und mir scheint ein leichtes Zucken durch seinen Körper zu gehen. Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass der Bursche mich ergreifen oder mir gar eine scheuern möchte.
Todesangst habe ich zwar nicht, aber ein Schreck durchfährt mich schon. Auf eine Prügelei bin ich ganz sicher nicht scharf. Aus dem Bauch heraus empfehle ich meinem Gegenüber, sich besser mal einen Anwalt zu nehmen und sich über die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland zu informieren.
Mit einiger Erleichterung beobachte ich, wie das Wort Anwalt beim Erhitzten einen zügelnden Effekt auszulösen scheint – oder war es die etwas gestelzt daherkommende Formulierung? Also setze ich gleich noch eins drauf und erläutere ganz sachlich, dass ich mich hier auf öffentlich frei zugänglichem Gelände befinde und damit nach allgemeiner Rechtsauffassung die Fotografierregeln des öffentlichen Raumes gelten und danach steht mir das Recht zu, frei zugängliche Straßenzüge, Gebäude und dergleichen zu fotografieren.
Jetzt bin ich wirklich froh, dass ich mich erst kürzlich über Fragen des Fotorechts genauer informiert habe, denn das passiert mir hier in Brandenburg (wie auch in Sachsen-Anhalt) immer wieder, dass misstrauische Menschen meinen, man dürfe ohne ausdrückliche Zustimmung so gut wie gar nichts fotografieren (außer den Himmel vielleicht).
Erfreulicherweise haben meine Ausführungen zum Fotorecht meinen „Gesprächspartner” erstmal in die Defensive gedrängt, aber ganz aufgegeben hat er noch nicht. Nun kündigt er – fast triumphierend – an, dass er augenblicklich den Hauswart informieren werde und dann würde ich ja sehen …
Das scheint mir allerdings als ein gutes Zeichen, wenn der Erhitzte sich nun hinter einem Menschen „höheren” Ranges versteckt. Wenigstens die Hierarchie funktioniert in Brücks Elend noch.
Ich habe inzwischen allerdings wirklich genug von diesem Affentheater, setze mich auf mein Rad und bin gewillt, das Elend schnellstmöglich hinter mir zu lassen.
Der arme Bursche startet daraufhin einen letzten verzweifelten Versuch, mich mit seinen abstrusen Vorstellungen doch noch zu beeindrucken und fordert mich in scharfem Ton auf, sofort stehen zu bleiben. Ich müsse auf den Hausmeister warten, den er jetzt sofort anrufen werde, andernfalls werde mich dieser, also der Hausmeister, stellen. Er sagt tatsächlich: stellen.
So viel Beschränktheit und Anmaßung zugleich tut schon fast körperlich weh. Was für ein jämmerliches Elend! Und wieder muss ich an Super RTL XXL denken (warum auch immer).
Mich stellte dann kein Hausmeister. Im Grunde sind solche Menschen zutiefst zu bemitleiden und ich frage mich, wie das nur möglich ist, dass in unserem reichen und kulturell geprägten Land solche Ghettos möglich sind und ob wir uns das auf Dauer leisten können, einen immer größeren Anteil unserer Mitbürger in solch ein soziales und menschliches Elend absacken zu lassen. Auf Dauer kann das nicht gut gehen.
Als ich später im Brandenburg Viewer die historische Karte der Preußischen Landesaufnahme aus dem 19. Jahrhundert betrachte, stelle ich fest, dass am östlichen Ende des heutigen Brücker Ausbaus der Flurname „Galgenenden” steht.
Auch das Elend hat seine Tradition.