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Mark Radler

Notizen aus der Provinz

No88 / 20. September 2020

Warum denn Germendorf ?

Ist einfach passiert. MARK RADLER ist durch Germendorf geradelt. Aber warum ist das der – schriftlichen und bildlichen – Rede wert?

1000 und keine Gründe

Nur mal ein Beispiel: Ibiza. Gähn. Kennt doch jeder. Wurde alles zu gesagt, geschrieben, abgebildet und gefilmt.

Aber Germendorf? Eben.

Und wenn du doch auf Ibiza warst – oder so – und später von erzählst, dann kommen ja doch sofort die neunmalklugen Kommentare. Igitt, Ibiza. Das war vielleicht vor sieben Jahren, drei Monaten und fünfeinhalb Stunden noch eine Reise wert (da war nämlich dein Gegenüber zuletzt dort gewesen). Aber doch nicht mehr heute – 2020 !!! Auf keinen Fall. Reiner Touristenmoloch. Laut, schmutzig und überhaupt. Und Corona. Außerdem die vielen DEUTSCHEN. Und die ENGLÄNDER sind ja noch viel schlimmer. Nee, Ibiza, schon lange nicht mehr authentisch. Ha! AAAABER … da musst du unbedingt mal hin … Laber, laber, laber. Stundenlang. Halt die übliche URLAUBSAUFTRUMPFUNGS-BATTLE.

Und Germendorf? Da fällt deinem Gegenüber nur die Kinnlade runter: GERMENDORF – WIE, WO, WAS?

 

 

Oder aber: Ibiza? Da gibt es diesen einen Strand, warst du da? Nee, wa? Ach, doch? Aber bestimmt nicht vier Minuten vor Mitternacht oder sechsunddreißig Minuten nach Sonnenaufgang. Nein? Ha, dann warst du eigentlich gar nicht da. Ha! Aber wi…i…r waren da! Vier Minuten vor Mitternacht UND sechsunddreißig Minuten nach Sonnenaufgang. Ha! Und ich sage dir: Kolossal krass. Geiler als geil. Einmalig. Musst du erlebt haben. Aber nur vier Minuten vor Mitternacht oder sechsunddreißig Minuten nach Sonnenaufgang. Sonst kannst du‘s vergessen.

Erzählst du aber von Germendorf, dann ist erstmal neunmalkluge Ruhe. Kennt ja keiner.

 

 

Das GRAUEN unserer Zeit: Wer eine Reise tut, so kann er was erzählen. Und da alle immerzu reisen und überall schon waren, hört das sich gegenseitig überbietende Geplapper nicht mehr auf. Dabei heißt es doch: KANN erzählen. Und nicht: MUSS. Und auch nicht: STUNDENLANG. Immer der gleiche Quark. Kennst du eine Urlaubserzählung, kennst du alle.

Aber in dieser Battle kannst du sie foppen. Sag einfach: Ihr müsst unbedingt mal nach Germendorf. Große Verunsicherung, ungläubiges Staunen. Kennt ja keiner.

 

Geheimtipp Germendorf.

Also Germendorf.

Hat leider einen Eintrag bei WIKIPEDIA. Ist also in Datenschland nicht völlig unbekannt. Also doch nicht so geheim, der Tipp? Aber welcher Ort wird denn bei WIKIPEDIA nicht erwähnt. Den gäbe es dann ja gar nicht. Quasi. Der wär‘ dann selbst für einen Geheimtipp zu geheim.

 

Für Germendorf spricht aber ganz klar, dass es in dem Eintrag bei WIKIPEDIA kein Kapitel über „Sehenswürdigkeiten“ gibt. Was geht denn da ab? Keine Sehenswürdigkeiten! Nicht eine? Dann also auch keine Touristen. Dito alles sehr authentisch dort. Demnach doch ein echter Geheimtipp-Kandidat.

Leider ist da noch ein weiterer potenzieller Schwachpunkt, das soll nicht verschwiegen werden. Germendorf wird in einem Roman erwähnt. Vor fast genau 10 Jahren, am 21.08.2010, verfasste ein „pixelroiber“ seinen 13 Bildkapitel umfassenden „photoroman oranienburg“, der u.a. in Germendorf spielt. Im „NIRGENDWO“, wie es dort heißt. Oder war es ein „IRGENDWO“? Egal. Entscheidender ist doch die Frage: wer ist denn dieser „pixelroiber“ überhaupt? Eben. Kennt ja auch keiner. Somit bleibt der Germendorf-Tipp doch ein ziemlich geheimer.

Nun wird’s aber richtig geheimtippig. Germendorf birgt nämlich ein großes kulturelles Geheimnis. Schon der „pixelroiber“ fand an der Kremmener Allee diesen rätselhaften Bau mit der Aufschrift „Galerie zum armen Poet’“. Und war vor 10 Jahren so ratlos wie MARK RADLER heute. Denn nichts Genaues weiß und erfährt man nicht darüber. Nicht mal im Datenschland. Wo gibt’s denn sowas? Außer in diesem einzigartigen NIRGEND-IRGEND-WO namens Germendorf.

 

Apropos Kultur. In Germendorf gibt’s sogar eine Streetart-Szene. Ein(e) verzweifelte(r) Witzbold*In ruft per Spraydose mit zutiefst deprimierenden Takes wiederholt zum LACH-DOCH-MAL auf. Was für eine zerrissene Künstlerseele. Das hat Tiefe. In Germendorf. Respekt!

Streetart in Germendorf

 

Germendorf teilt ja das Schicksal vieler Vor- oder Stadtrandorte. Es bildet einen von der Stadt ins Umland zerfasernden Siedlungsbrei – einschließlich gesichtsloser Einkaufscenter samt endlos monotoner Parkplatzflächen. Ist also nichts Halbes und nichts Ganzes (mehr), dieses Germendorf. Weder Dorf noch Stadt. Ein IRGENDWAS im IRGENDWO. Und damit schon wieder so gewöhnlich, dass es was BESONDERES ist. Auf jeden Fall AUTHENTISCH. Sehr sogar.

 

Das Zentrum von Germendorf

 

Was uns für Germendorf aber besonders erwärmt, ist sein Underdog-Status, denn etwa 20 Kilometer nördlich gibt‘s ein Gutengermendorf. Also ein gutes Germendorf. Unser Germendorf ist also das Aschenputtel unter den oberhavelländischen Germendörfern und wurde seit dem 15. Jahrhundert mitunter tatsächlich als Qwaden oder Quaden Germendorf bezeichnet, was schlicht „schlecht“ bedeutet. Schlechtes Germendorf. Armes Ding. Und schon fliegt dir unsere Zuneigung zu, so empathisch wie wir sind.

An der Hauptstraße, der Germendorfer Dorfstraße, die in und durch den „historischen“ Ortskern führt, da gibt es doch tatsächlich am östlichen Ortseingang eine „Deutsche Automobilberatung“. Beratung ist ja immer gut. Dabei wusste ich gar nicht, dass Automobile einen Beratungsbedarf haben. Aber die Stellflächen sind tatsächlich voller Autos. Der Beratungsbedarf muss demnach gewaltig sein. Sind ja auch schwere Zeiten für Automobile. Zumindest für die mit Verbrennungsmotoren. Haben keine Zukunft mehr. Da kommen natürlich Existenzängste auf. Da sollte man vielleicht auch gleich Autotherapieplätze schaffen.

 

Die Deutsche Automobilberatung in Germendorf

 

Wieso aber eigentlich DEUTSCHE Automobilberatung? Fragen über Fragen. Immerhin stehen auf den Stellflächen trotzdem auch ausländische Fabrikate. Hier wird demnach echte Integration vorgelebt. Bei der DEUTSCHEN Automobilberatung.

Sogar eine Bahnhofsstraße und einen Bahnhof gibt es in Germendorf. Allerdings trotzdem keinen Bahnanschluss, denn die Bahnstrecke ist längst stillgelegt.

Dafür ist Germendorf der Sitz der OVG, der Oberhavel Verkehsgesellschaft, quasi der BVG von Oberhavel. Blau gestreifte Busse ergießen sich von hier ins Oberhavelland. Das ist doch auch was.

Die mittelalterliche Dorfkirche ist schon im 18. Jahrhundert abgebrannt und wurde 1739 neu errichtet. Deren Turm vernichtete ein weiteres Feuer im 19. Jahrhundert, dieser wurde 1861 dann nochmals neu aufgebaut. Auch das ein IRGENDWAS im IRGENDWO – und irgendwie schon wieder was BESONDERES. Und zum Denkmalschutz reicht’s auch.

 

Dorfkirche von Germendorf

 

Und Futtern kann man in Germendorf. Erstaunlicherweise gibt es hier mehrere Gaststätten. Einen „Italiener“, einen „Griechen“ und vor allem „Hildes Eisdiele“. Die ist allerdings viel mehr als eine Eisdiele. Nämlich eine Gaststätte mit ostalgischer Küche. Und das ist jetzt der absolute Geheimtipp. Denn wo kann man sonst noch für 3 € eine Soljanka oder für 6,50 € (!) ein Schweineschnitzel mit Letscho, Pommes (oder Kroketten) und Salatbeilage futtern? In Germendorf ist das (noch) möglich. Man fühlt sich da fast real-sozialistisch. Das ist doch der große Coup schlechthin und für ostalgisch gestimmte Gemüter und Gourmets ein absolutes MUSS. Und es gibt in Germendorf auch Übernachtungsmöglichkeiten. Echt.

 

Der ultimative Geheimtipp

 

Und schließlich wollen wir nicht vergessen: westlich von Germendorf – rund um einige Baggerseen – gibt es den gleichnamigen FREIZEIT- und SONSTWAS-PARK (für den gibt’s ungefähr ein halbes Dutzend unterschiedliche Bezeichnungen). Wenn man denn konsumorientierte Freizeitgestaltung und eingezäunte Retortennatur mag. Immerhin kann man da lebensgroße – natürlich keine lebenden – Saurier bestaunen. Aber wirklich mit dem Ort Germendorf hat das ja nicht viel zu tun. Man fährt nur durch, um zum Freizeitpark zu gelangen. Zumindest wenn man von Oranienburg kommt.

 

Saurier bei Germendorf

 

Noch viel weiter westlich kommt man dann nach Kremmen und in die Kremmener Luchlandschaft. Wenn das kein Grund ist, mal durch Germendorf zu fahren, dann weiß ich auch nicht weiter.

 

Dann fahrt doch nach Ibiza oder Dingsda, ey.

Mir doch egal. MARK RADLER war jedenfalls in Germendorf. Und Hildes Eisdiele hatte geöffnet.

MARK RADLER fährt weiter !

Post Scriptum

Wäre doch reizvoll, auch mal das „gute Germendorf“ zu besuchen.