Armes Sandau
Im Sommer sollte es von Havelberg weiter die Havel rauf bis Rathenow gehen, aber da war noch was…
Eine lockende Erinnerung
Auf dem Weg zur Oma im Wendland hatten wir früher immer die reizvolle Route über Havelberg gewählt und dann in der Regel die Elbe mit der Werbener Gierfähre überquert. Einige Male, allerdings sehr selten, klappte das nicht, weil die Werbener Fähre defekt oder die Fährstelle von Elbehochwasser überflutet war. In diesen Fällen war die nur knapp 6 km südlich entfernte Sandauer Fähre immer unsere Rettung gewesen. Ansonsten hätten wir weite Umwege über die Elbbrücken bei Tangermünde oder Wittenberge machen müssen. So waren wir wirklich froh und dankbar für diese Sandauer Fährgelegenheit. In Sandau beeindruckte uns damals immer wieder der ruinöse Bau der mittelalterlichen Stadtkirche St. Laurentius und St. Nikolaus. Aber da Oma mit Kaffee und Kuchen wartete, blieb nur die Zeit neugieriger Blicke. Außer Kirchenruine und Fährstelle blieb in der Erinnerung von Sandau nicht viel haften.
Ein neuer Anlauf
Nun endlich wollte ich mir die Zeit für einen Abstecher nach Sandau an der Elbe nehmen. Abstecher, was für ein martialisches Wort für so eine friedliche Unternehmung. Aber was soll‘s.
Die Fahrt mit dem Rad entlang der recht stark befahrenen B 107 gehört erstmal nicht zu den vergnüglichsten Angelegenheiten, weshalb die Freude umso größer war, als ich endlich nach Sandau einradelte. Aber was ist das für ein Unterschied zum malerisch gelegenen und weitgehend wieder instandgesetzten Havelberg. Sandau erscheint im Vergleich zu Havelberg wie ein armes Häufchen Elend. Meist triste Häuser und leerstehende Geschäfte und Gaststätten lassen ein lokales Drama erahnen. Nix mehr los hier, obwohl sich Sandau doch offiziell Stadt nennt. Mit 868 Einwohnern (Stand Ende 2017) ist Sandau allerdings die kleinste Stadt in Sachsen-Anhalt. Immerhin ein Superlativ für eine mögliche Imagekampagne.
Nach ein Paar Straßenkreuzungen kommt dann endlich zur Linken die große Backsteinkirche in meinen Blick. Aber der Blick ist anders, als ich ihn in Erinnerung habe. Die Ruine von einst ist inzwischen wiederaufgebaut. Ich bin fast enttäuscht. Fast? Nein, ich bin enttäuscht, denn der Bau sieht jetzt wegen der nagelneu-leuchtenden Ziegel, die den mächtigen Westturm dominieren, samt neu gedecktem Dach eher wie ein Neubau aus, denn wie ein Bau aus dem Mittelalter. Vor allem aber scheint mir das ganz Besondere dieses Ortes, als die Ruine Mahnmal dieses völlig irren Krieges war, dessen verbrecherische Verursacher in diesem Land wieder auf offene Zustimmung stoßen, ganz unnötig weggewischt. Aber das ist meine ganz persönliche Empfindung. Ich weiß, dass die meisten Menschen Ruinen nicht ertragen können. Dabei denke ich unweigerlich an die Gedächtniskirche in Berlin. Wie richtig und mutig war das damals in den 1950ern, diese Kirchenruine nicht wiederaufzubauen, denn als authentisches Mahnmal hat sie heute eine viel größere Bedeutung als sie es ansonsten hätte. Allerdings kann sie diese Bedeutung natürlich nur haben, weil nicht alle zerbombten Kirchen zu Mahnmalen geworden sind. Aber hier in Sandau hat es diese Ruine, das heißt, eigentlich war nur der Turm eine Ruine, bis 2002 gegeben, also fast 60 Jahre lang. Das ist schon eine eigene Geschichte, ein eigener Denkmalwert. Ich bin aber offen für andere Betrachtungsweisen, will nicht über andere Meinungen in dieser Sache urteilen.
Die Geschichte einer Ruinenwerdung
So gehe ich weiterhin mit der in Havelberg entfachten guten Laune in das wiederaufgebaute Backsteingebäude – und werde dort freundlich empfangen. Die Sandauer Kirche ist nämlich ein „Trittstein“ auf der durch Sachsen-Anhalt führenden Straße der Romanik, weswegen interessierte Besucher auch hier von – mehr oder weniger – fachkundigen Betreuern empfangen werden (*). Schnell offenbart sich aus dem Gesagten des sich mir zugewandten Betreuers ein unbändiger Stolz auf den von 2002 bis 2013 erfolgten Wiederaufbau des Turms. Nun gut, das kann ich durchaus nachvollziehen, auch wenn ich hier einen anderen Umgang mit der Geschichte und Bausubstanz vorgezogen hätte. Schnell kommt dann die Sprache auf die Umstände der Turmzerstörung. In recht vorwurfsvollem Ton wird mir erzählt, dass die Amerikaner zum Kriegsende, im April 1945, von der anderen Elbseite die Kirche unter Artilleriefeuer genommen und damit den Turm zerstört haben. Ebenso vorwurfsvoll wird dann noch nachgeschoben, dass die Amerikaner später wieder abgezogen sind und die Menschen hier einfach dem Russen überlassen haben. Nicht erzählt wird mir, dass auch hier in Sandau von deutscher Seite bis zum allerletzten Moment ein fanatischer Endkampf eines längst verlorenen Kriegs geführt wurde. Nicht erzählt wird, dass bei Sandau zu dieser Zeit eine Einheit der Waffen-SS stationiert war, die eine friedliche Übergabe des Ortes an die US-Armee abgelehnt und dabei auch noch einen US-amerikanischen Parlamentär erschossen hatte. Nicht erzählt wird, dass sich die deutsche Seite erst nach einem zwölftägigen Artilleriebeschuss ergab. Und das am 25. April 1945, also 13 Tage vor Kriegsende. Ebenso nicht erzählt wird, dass Kirchtürme auch im zweiten Weltkrieg als Fernaussicht für die eigene Artillerie genutzt wurden und damit zu militärischen Einrichtungen gemacht wurden.
Die Stimmung kippt
In diesem Fall denke ich mir meinen Teil und komme auf den traurigen Zustand von Sandau zu sprechen. Damit renne ich nun offene Türen ein. Tatsächlich sei hier alles hoffnungslos, alles geht den Bach (oder die Elbe) runter. Na, so heftig meinte ich es nun doch nicht. Zur Aufmunterung erwähne ich Havelberg als Hoffnungsschimmer, von dem vielleicht auch Sandau profitieren könne. Negativ, auch Havelberg sei eine sterbende Stadt. Ich wende ein, dass ich viel Positives in Havelberg gesehen habe, dass Havelberg gerade in den letzten 10 Jahren deutliche Fortschritte gemacht hat. Negativ, die Altstadt veröde, immer mehr Geschäfte stehen leer. Ich führe an, dass der Tourismus in den letzten 10 Jahren in Havelberg dank Elbe- und Havelradweg und zunehmendem Kleinbootverkehr stark zugenommen hat, davon profitiert Havelberg ganz offensichtlich. Negativ, die Touristen würden ja nicht bleiben, es sei auch nur ein Saisongeschäft. Aber immerhin, und wem es gefällt, der kommt wieder oder der erzählt es seiner Familie, seinen Freunden und Bekannten. Und dann kommen immer mehr. Negativ, er könne das besser beurteilen, er lebe ja hier, er sehe die Entwicklung seit über 20 Jahren. Vor allem die Jungen ziehen weg. Ich wende ein, dass insbesondere unter den Radtouristen viele junge Leute sind, immer wieder habe ich dabei große Begeisterung für Havelberg erlebt, ich war die letzten Jahre ja häufig hier im Dreh. In Havelberg habe ich sogar zwei junge Leute kennengelernt, die vom Bodensee – aus dem tiefsten Südwesten der Republik – kommen und von Havelberg so begeistert waren, dass sie dort ein Eiscafé eröffnet haben. Negativ, es gibt keine Industrie mehr, ohne die geht’s nicht. Leicht verzweifelt frage ich, ob er überhaupt irgendetwas Positives sehe. Keine Antwort. Ist auch eine Antwort. Mitleid erfüllt mich, irgendwie sehe ich mich in der Pflicht, diesem zutiefst hoffnungslosen Menschen ein Fünkchen Hoffnung zu geben. Ich sage, dass jeder Fortschritt klein anfängt. Wenn sich hier junge Leute vom Bodensee niederlassen, dann kommen vielleicht Freunde und Familie nach. Das nütze doch hier niemandem. Ah ja, da kommt mir so ein trüber Gedanke, worauf das letztlich hinausläuft. Aber ich habe auch hier noch Argumente, denn jeder neue Bewohner, jedes neue Geschäft, und sei es von „Auswärtigen“ betrieben, braucht doch hiesige Lieferanten und Handwerker, bringt Steuern in die Kasse usw. usf. Und es spricht sich allmählig herum, da erwächst doch ein positiver Trend. So hat das in anderen Gegenden auch angefangen. Und ich führe an, dass sie hier doch einige Trümpfe ausspielen können, selbst in Sandau: die Straße der Romanik mit der spätromanischen Kirche Sandau, der Elbradweg, die Elbfähre, die Nähe zu Havelberg mit dem Havelradweg, das Biosphärenreservat Mittel-Elbe, die Elbe-Havellandschaft mit Rang europäischer Natura 2000-Gebiete… Negativ, negativ, negativ: Natura 2000, das ist das Ende aller Nutzungen, das macht alles kaputt, das bringt gar nichts, das wolle hier niemand. Leicht entnervt erwidere ich, dass Natura 2000 ein positives Naturimage vermittle, dass dadurch insbesondere anspruchsvollere Touristen angesprochen werden, wozu übrigens auch der Radtourismus gehört. Negativ, die Menschen, vor allem die Einheimischen, würden so aus der Landschaft vertrieben, alles sei verboten und gesperrt. Ich berichte, dass ich Gegenden kenne, sogar in Brandenburg, wo die Einheimischen stolz sind auf ihre Natura 2000-Gebiete, dass Städte, Gemeinden und Geschäftsleute damit werben, solche Gegenden offensichtlich davon profitieren. Negativ, hier sei das anders, hier interessiere das niemanden, hier wolle man das nicht. Nochmals führe ich an, dass man mit Natura 2000, mit Naturschutz überhaupt, ein positives Image aufbauen und damit Touristen anlocken könne, aber da müssten alle an einem Strang ziehen. Und mit dem Natura 2000-Informationszentrum in Havelberg ist doch ein erster Schritt dazu gemacht. Ach das, das ist doch nur rausgeschmissenes Geld, für die wenigen Leute, die das interessiert. Und von hier seien die sowieso nicht. Das ist ja nun mal Sinn des Tourismus, dass man Menschen aus anderen Gegenden anlocken möchte. Abgesehen davon, dass auch die Besucher der Straße der Romanik nicht vorrangig aus Sandau oder Havelberg kommen werden. Und wenn das Naturschutz-Informationszentrum in Havelberg rausgeschmissenes Geld ist, dann gilt das für den Wiederaufbau des Sandauer Kirchturms erst recht, denn hier sind eindeutig weniger Besucher als ich im Informationszentrum angetroffen habe. Dabei blicke ich mich im Saalbau um: außer mir ist nur ein älteres Ehepaar anwesend. Im Informationszentrum in Havelberg waren es deutlich mehr, und es waren junge Leute mit Kindern dabei. Welche jungen Leute (mit Kindern) interessieren sich dagegen für so ein olles Gemäuer? Jetzt guckt mein Gegenüber doch etwas irritiert und wird bockig: ich als Berliner habe doch keine Ahnung, was hier abläuft. Er habe die letzten 20 Jahre hier gelebt, erlebt, wie alles schlechter wurde, alles bergab ging und noch immer geht. Ich begreife allmählich, dass ich mir hier die Zähne ausbeiße, dieser depressiven Stimmung ist nicht beizukommen. Mitleidig stelle ich fest, dass ich so viel Pessimismus deprimierend finde und frage nochmals, ob er denn gar nichts Positives mehr wahrnehme. Wieder folgt keine Antwort. Nun weiß ich auch nicht mehr weiter. Eigentlich nur noch rhetorisch gemeint ist meine Frage, ob er denn wenigstens positiv sehen könne, dass sich in den letzten 20 Jahren der Elbebiber ausgebreitet hat? Ein leichtes Zucken fährt durch das Gesicht meines Gegenübers. Dann gehören sie also auch zu den Leuten, die für die Ansiedlung des Wolfs sind? Und in seiner Stimme kommt dabei tiefste Abscheu zum Ausdruck. Sehe ich einmal davon ab, dass der Wolf bei uns nicht angesiedelt wird, sondern sich natürlich ausbreitet, habe ich eine durchaus differenzierte Sicht zum Thema Wolf (s. MR 30). Aber ich habe keine Lust mehr, das hier weiter auszuführen.
Endlich geht es aufwärts
So steige ich ziemlich missmutig auf den Turm. Meine good vibrations aus Havelberg sind verflogen, schlechte Stimmung ist offensichtlich höchst ansteckend. Aber dann erlebe ich den Ausblick…
MARK RADLER will return …
(* – Anmerkung vom Juli 2019: Wer mehr über den spätromanischen Kirchenbau erfahren möchte, der sei auf die sehr informative Webseite geschichtstouren.de verwiesen).