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Mark Radler

Notizen aus der Provinz

No53 / 5. November 2017

Ein Festungsturm im Angesicht des Feindes

Wie in Teil 1 von „Havel rauf“ verkündet (MR No28), wollen wir vom Havelende bei Gnevsdorf etappenweise die Havel aufwärts bis zur Quelle erkunden. Im vorigen Teil 5 (MR No52) hatten wir Havelberg erreicht, die erste Havelstadt auf unserer Tour. Und hier tauchen wir nun tief in die märkische Vor- und Frühgeschichte ein …

„Game of Thrones” in und um Havelberg

„Einige von uns bauen einen Festungsturm im Angesicht des Feindes, andere stehen Wache gegen die Angriffe der Heiden. Einige, die sich ganz dem Gottesdienst hingeben, erwarten täglich das Martyrium, andere reinigen ihre Seelen durch Fasten und Beten, um sie an Gott zurückzugeben. Wieder andere beschäftigen sich mit dem Lesen der Heiligen Schrift und mit Meditation und eifern dem Beispiel und dem Leben der Heiligen nach. Und so folgen wir alle nackt und arm dem nackten und armen Christus, so gut wir können.“

„Festungsturm“, „im Angesicht des Feindes“, „Angriffe der Heiden“ und „Wache stehen“ – mit diesen dramatischen Worten beschrieb Bischof Anselm von Havelberg um 1150 die Situation seines gerade im Aufbau befindlichen Bistumsitzes auf dem Havelberg. Klingt das nicht wie eine spannungsgeladene Szene aus einem fantastischen oder zeithistorischen TV- oder Kinodrama? Wie etwa aus der populären TV-Serie „Game of Thrones“ oder noch viel mehr wie aus dem Kreuzritterdrama „Königreich der Himmel“ von Ridley Scott? Ganz ähnlich wie die Kreuzzügler in Jerusalem waren Bischof Anselm und seine christlichen Mannen auch in Havelberg die missionierenden Eindringlinge, die sich von der Mehrheit der andersgläubigen Einheimischen bedroht fühlten. Und das nicht zu Unrecht, denn seit mindestens 200 Jahren tobte ein heftiger Kampf um Havelberg, das wohl Hauptort im Gau des Slawenstammes der Nielitizi und zeitweise sogar ein Schwerpunkt des slawischen Widerstandes gegen die christlich-deutsche Okkupation der rechtselbischen Gebiete war.

 

Obererer Turmbereich

Die Situation in Havelberg war um 1150 auch deswegen so angespannt, weil die christlichen Missionare und Eroberer für ihren Bistumssitz ein bis dahin dort existierendes slawisches Heiligtum zerstört hatten, das die Slawen zur Anbetung oder Huldigung ihrer Gottheit Gerovit genutzt hatten. So hart und erbarmungslos war das „Spiel um die Macht“ damals. Aber was heißt „damals“? In anderen Weltgegenden treffen wir noch immer (oder schon wieder) auf solche erbarmungslose Besessenheit und verbissenen Hochmut gegenüber Andersdenkenden, Andersgläubigen (oder Freidenkenden). Wobei einem sogleich der IS in den Sinn kommt. Aber zurück ins mittelalterliche Havelberg.

Der Turmbau zu Havelberg

Spätestens mit dem – aus christlich-deutscher Sicht – erfolgreichen Wendenkreuzzug von 1147, an dem auch Bischof Anselm als päpstlicher Legat teilgenommen hatte, war auch in Havelberg die Macht der Slawen gebrochen. Aber das Verhältnis zwischen Einheimischen und Besatzern war verständlicherweise weiterhin von Angst und Misstrauen geprägt. Als um 1150 das Domkapitel St. Marien in Havelberg gegründet wurde, konnten sich die neuen Herrscher ihrer Sache also noch längst nicht sicher sein. Und genau das vermittelt das aus Grauwacke-Bruchstein errichtete mächtige Westwerk des Havelberger Doms auf beeindruckende und sehr authentische Weise bis heute.

 

Unterer Turmbereich mit Zugang zum Wehrbau

Das massive Turmbauwerk mit seinen kleinen Fenstern und Schießscharten kommt doch unserer Vorstellung einer Trutzburg in Feindesland recht nahe. Es überrascht daher auch nicht, dass der wehrartige Turm der älteste Bauteil des Havelberger Doms ist. Der Festungscharakter wird durch weitere Merkmale untermauert. Da ist zunächst die kleine romanische Tür auf der Südseite des Turms in 6 m Höhe zu nennen, die vermutlich – gleich einem Bergfried – der schwer erreichbare Zugang in den obergeschossigen Wehrbau war. Noch in romanischer Zeit wurde auf den ca. 19 m hohen Bruchsteinbau Backsteinmauerwerk aufgesetzt. Nur wenig oberhalb der Bruchsteinkante ist noch heute der Ansatz eines Zinnenkranzes zu erkennen, der jedoch bereits in romanischer Zeit beim Weiterbau beseitigt bzw. übermauert wurde. Denn, wie wir heute wissen, erhoben sich die Slawen nicht noch einmal und der „Festungsturm im Feindesland“ wurde nicht mehr benötigt.

 

Erkennbarer Ansatz des Zinnenkranzes im unteren Backsteingemäuer

Immerhin verlief die weitere Missionierung und Kolonisation danach, soweit wir wissen, weitgehend friedlich. Was vermutlich nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken ist, dass mit den neuen Herrschern, den Klöstern und Mönchen sowie den aus weiten Teilen Deutschlands kommenden Kolonisten wirtschaftlicher Fortschritt und gewisser Wohlstand ins Land kamen, von dem letztlich auch die slawische Bevölkerung profitierte. Merke: Inklusion funktioniert nur bei wirtschaftlicher Teilhabe aller.

MARK RADLER will return …

Nachtrag:

Noch ein Nachtrag zum „Game of Thrones“-Bezug dieses Artikels. Auch die Vorgeschichte, die zum Turmbau von Havelberg führte, braucht sich an Dramatik nicht hinter dem Fantasy-Epos von George R.R. Martin zu verstecken. Reale Geschichte kann so verdammt spannend sein. Deshalb hier noch ein Nachtrag.

Wohl im Verlauf des 7. Jahrhunderts, also vor über 1300 Jahren, wurde (auch) das Havelberger Land von slawischen Stämmen, die aus dem Osten kamen, besiedelt. Die hier zuvor ansässigen Germanen hatten das Land einige Jahrhunderte vorher zum überwiegenden Teil verlassen, was in der Geschichtsschreibung als Epoche der Völkerwanderung betitelt wird. Das Havelberger Gebiet gehörte dann zum Slawengau der Nielitizi, die später auch als Brizanen bezeichnet wurden. Havelberg war wohl wegen seiner exponierten Lage an der Havel bzw. der Havelmündung in die Elbe ein Hauptort, wenn nicht gar der Hauptort des Slawengaus. Mit der Niederwerfung der Sachsen durch Karl den Großen Anfang des 9. Jahrhunderts gelangten die Slawenstämme des Elbe-Havelgebietes unmittelbar in die Einflusszone des Frankenreiches. Aber erst mit der Abspaltung des ostfränkischen Reiches und der Regentschaft Heinrichs I. entwickelte sich aus den politischen Prioritäten von Einflussnahme und Grenzsicherung zunehmend ein Anspruch auf das ostelbische Land und der Drang religiöser Missionierung, dem sich die Slawen zunänchst größtenteils widersetzten. Nach unzähligen Scharmützeln und kleineren Feldzügen kam es 929 zu einer entscheidenden Schlacht beim nahegelegenen Lenzen, die von den Truppen des ostfränkisch-deutschen Königs Heinrich I. gewonnen wurde. In Folge des Sieges wurde auf dem Havelberg eine deutsche Burg errichtet (ob an Stelle einer Slawenburg ist nicht überliefert oder belegt, aber durchaus möglich), die unter Heinrichs Sohn, Otto dem Großen, durch Gründung bzw. Stiftung des Missionsbistums Havelberg im Jahre 946 oder 948 zum Ausgangspunkt der christlichen Missionierung der ostelbischen Gebiete wurde. Zu dieser Zeit wurde vermutlich erstmals im Burgareal eine Kathedralkirche errichtet. Die Slawen leisteten allerdings Widerstand, auch wenn einige Slawenfürsten, vermutlich vorwiegend aus machtpolitischen Gründen, zum Christenglauben konvertierten. Im Jahr 983 erhoben sich mehrere Slawenstämme zu einem großen Aufstand gegen die christlich-deutschen Eroberer. Der Aufstand, der den ganzen nördlichen und mittleren Teil des ostelbischen Slawengebietes erfasste, begann ausgerechnet mit der Eroberung Havelbergs, was für eine gewisse Bedeutung des Ortes spricht. Der Bischofssitz samt vermutlich bestehender Kathedralkirche wurde zerstört. Die Burg befand sich nun in slawischer Hand, anstelle des christlichen Bistumssitzes wurde ein slawisches Heiligtum zu Ehren der Gottheit Jarovit oder Gerovit errichtet. Durch die Randlage zum ostfränkisch-deutschen Reich war Havelberg aber offenbar immer wieder deutschen Angriffen ausgesetzt und fiel im 10. und 11. Jahrhundert vermutlich phasenweise wieder in deutsche Hand.

Ähnlich wie bei „Game of Thrones“ verliefen die feindlichen Fronten aber auch innerhalb der Slawenstämme bzw. kam es zum „Verrat“. Anfang des 12. Jahrhunderts belagerte der slawische – inzwischen aber christlich bekehrte – Obodritenfürst Heinrich, der bitte nicht mit dem ostfränkischen König Heinrich verwechselt werden möge, die Slawenburg von Havelberg. Diese muss stark ausgebaut gewesen sein, denn die Besatzung ergab sich trotz großer Übermacht der Belagerer erst nach mehreren Monaten. Die christlich bekehrten Slawenfürsten konnten ihren neuen Glauben bei ihren Stämmen allerdings kaum durchsetzen, es gab mitunter sogar gewalttätigen Widerstand dagegen. So ist es in Schriftquellen überliefert, dass der nach dem Tod Heinrichs ab etwa 1128 in Havelberg residierende (christlich getaufte) Slawenfürst Wirikind den Christenglauben bei seinem Stamm nicht durchsetzen konnte. Als Bischof Otto von Bamberg im Jahr 1128 auf einer Missionsreise nach Pommern durch Havelberg kam, wurde dort – zum Entsetzen des Bischofs – gerade das Fest des Gottes Gerovit gefeiert, worauf der Bischof schwere Vorwürfe gegen den Fürsten Wirikind richtete. Dieser erwiderte, dass die Bevölkerung nicht bereit sei, den neuen Glauben anzunehmen. Wobei durchaus vorstellbar ist, dass Wirikind selbst vom „neuen Glauben“ nicht so ganz überzeugt war. Immerhin ist überliefert, dass dessen Söhne dem „slawischen Götterglauben“ anhingen, als sie 1138 Havelberg, das zwischenzeitlich offenbar wieder in deutsche Hand gefallen war, zurückeroberten und die dortige Kirche zerstörten. Schließlich kommen wir zum Wendenkreuzzug von 1147, bei dem der Markgraf der Nordmark, Albrecht der Bär, eine entscheidende Rolle spielte, durch den Havelberg endgültig in christlich-deutsche Hand fiel und Bischof Anselm „im Angesicht des Feindes einen Festungsturm errichten ließ“ (s.o.). Bleibt nur noch anzumerken, dass jener Fürst Albrecht, den sie den Bären nannten, zehn Jahre später die slawische Brandenburg eroberte und die Mark Brandenburg gründete. „Game of Thrones“ halt.