Über die Havel, Jederitz und „goldene Zeiten“
Unsere nächste Etappe (der zweiten Haveltour) führt uns on Havelberg nach Strodehne, wo die Havel – etwa 14 km vor (oder hinter) Havelberg – das nächste Mal überbrückt wird.
Aufwärts immer
Es geht weiter flussaufwärts. Wir wählen für unsere zweite Havel rauf-Tour zunächst die kürzere Südwestroute über Jederitz und Kuhlhausen, müssen also erstmal die Havel im Süden der Inselstadt Havelberg überqueren. Danach biegen wir links in die Rathenower Straße (L2) ein und folgen der L2 über Jederitz und Kuhlhausen bis zur L17, die uns dann über die Havel ins Brandenburgische Strodehne führt. Genau, bis dahin fahren wir erstmal durch das Bundesland Sachsen-Anhalt, aber das ist wahrlich nichts, vor dem wir uns fürchten müssten.
Parallel zur Landstraße verläuft hier ein gut ausgebauter Radweg. Zu unserer Linken erstrecken sich weiträumig die Havelwiesen. Allerdings ist von der Havel bald nicht mehr viel zu sehen, denn diese scheint mit uns zu fremdeln und entfernt sich auf über 500 Meter von unserem Landstraßenradweg. Bleiben uns ggf. einzelne Stichwege, um der Havel immer mal wieder auf den Pelz zu rücken. Schließlich geht’s hier ja um die Havel.
Nach etwa 2,7 km (hinter Havelberg) kommen wir an einem „Vogelbeobachtungsturm“ vorbei. Wir befinden uns gerade im Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung (FIB) Untere Havel/ Sachsen-Anhalt und Schollener See. Besagter Aussichtsturm ist allerdings (2019) leider kaputt und offiziell gesperrt. Na ja, es ist die übliche Geschichte. Durch Fördergelder wird zwar manch Sinnvolles errichtet, aber da meist die Mittel zur Instandhaltung fehlen bzw. nicht eingeplant werden, ist der Verfall vorprogrammiert. Wirklich Sinn macht das ja nicht …
Ort am See, aber ohne See
Ungefähr 4,6 km hinter Havelberg erreichen wir schließlich Jederitz, ein 140-Seelen-Örtchen, das bereits im Mittelalter auf einer Sandinsel in der Havelniederung errichtet wurde. Der gesonderte Radweg endet am Ortseingang erstmal.
Der Name Jederitz ist mal wieder slawischen Ursprungs und bedeutet Ort an einem See. Einen See suchen wir hier heute allerdings vergebens. Selbst die Havel, zumindest deren heutiger Verlauf, ist fast einen Kilometer von Jederitz entfernt. Damit kann man Jederitz eigentlich gar nicht als richtiges Haveldorf bezeichnen.
Das Dorf Jederitz erscheint uns heute als eine Mischung aus Rund- und Straßendorf und wurde in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder von Brand- und Flutkatastrophen wie auch Kriegen gebeutelt. Ausdauernd und geduldig wie Sisyphos bauten die Jederitzer ihr Dorf immer wieder auf.
Der Turmsturz zu Jederitz
Die etwas eigenartig anmutende Dorfkirche zeugt von dieser sehr bewegten Geschichte. Der erste mittelalterliche Fachwerkbau wurde beim Dorfbrand 1655 zerstört, der folgende Fachwerkbau 1842/ 44 wegen Baufälligkeit abgerissen. 1874 wurde dann ein wuchtiger Backsteinbau in neugotischem Stil und einem 30 Meter hohen Turm erbaut. Als im April 1945 Jederitz unter amerikanischen Artilleriebeschuss geriet, beschloss der damalige Bürgermeister den Kirchturm, der für die amerikanische Artillerie wegen seiner Höhe ein gut anzupeilendes Ziel war, zu sprengen. Dummerweise fiel der Turm infolge der Sprengung auf das Kirchenschiff, das hierdurch schweren Schaden nahm. Der Bürgermeister wurde daraufhin abgesetzt und die Kirche nach 1947 notdürftig wieder hergerichtet, wobei der Turm seinen seltsamen Holzabschluss erhielt. Dumm gelaufen.
Aus goldenen Zeiten
Auf der Alten Dorfstraße komme ich mit einem älteren Herrn ins Gespräch, der sich als Inhaber der ehemaligen Dorfgaststätte entpuppt. Ich erfahre, dass die Gaststätte hier ungefähr 80 Jahre Bestand hatte und zu DDR-Zeiten eine wahre „Goldgrube“ war. Wegen „Mudderns“ Futter war das Haus immer voll. Vor allem Mudderns Kartoffelsalat war in der Gegend geradezu legendär.
Vom Gewinn ging aber immer ein satter Anteil an die Konsumgenossenschaft. Kurz vor der Währungsunion gab’s dann noch einen Hype. Die Leute im Ort haben noch schnell alles DDR-Kleingeld „vergessen“ und „vertrunken“. Danach ging’s bergab, die Kunden blieben weg und die Kosten stiegen unaufhörlich. Im Jahr 2008 ging’s nicht mehr und die Gaststätte wurde geschlossen. Trotzdem trauere er der DDR nicht nach, die Wende war nötig und letztlich doch überwiegend positiv. Das ist doch ein Wort.
Trübe Aussichten?
Am Ortsausgang passieren wir den Trübengraben. Der historische Name zeigt uns mal wieder, dass in früheren Zeiten die Bezeichnungen noch nicht allenthalben von Marketingspezialisten oder unter Marketinggesichtspunkten ersonnen wurden, sondern einfach das beschrieben, was war. Hier offensichtlich ein trüber Graben. Und den ziehe ich jeder weichgespülten und verschwurbelten Marketingprosa vor.
Über den trüben Graben ist Jederitz übrigens – zumindest für Sportboote – von der Havel aus zu erreichen. Softer Tourismus – auch hier ein zarter Hoffnungsschimmer.
MARK RADLER fährt weiter …